Stileigentümlichkeiten Herodots1

Herodot, der Zeitgenosse des Perikles und des Sophokles, hat die Historiographie im Abendland begründet, ein Verdienst, das ihm schon in der Antike den Titel pater historiae2 eintrug. Ihm war es als erstem gelungen, ein Werk zu schaffen, das völker- und erdkundliches mit Geschichtsschreibung vereinigte und damit über den bei seinen Vorgängern üblichen, die Geschichte vernachlässigenden Rahmen hinausging.
Herodot reiste zwar in der gleichen Manier wie Hekataios von Milet durch Kleinasien, den Orient und durch Ägypten, er stützte sich in manchem - Geographie und Ethnographie - auf die literarische Vorlage der περιοδος γης δes Hekataios, doch ging er schon bei der Auswertung der Quellen genauer und kritischer zu Werke als jener, der - beeinflusst von der erwachenden ionischen Naturwissenschaft - zweifelhafte Aussagen in „skeptischer Willkür“3 kühn beiseite schob oder umformte. Dagegen lässt sich Herodot, der zwar Ionier der Herkunft nach war, für diese Leute aber nicht viel übrig hatte und sich mehr als Dorer fühlte, in seinem Traditionsbewusstsein von einer vorsichtigen Empirie4 leiten: Er stützt sich nur auf Berichte,  die ihm ατρεκες (unverfälscht, unverdreht) erscheinen; polemische Seitenhiebe teilt er gegen die aus, die alles glauben (II 15, 17,  20, IV 36 u.ö.), und äussert die skeptische Kritik des Berichterstatters (I 214, II 131, III 2, III 116), ohne das Berichtete zu verändern.
Mehrmals (u.a. III 9) erfüllt er die Forderung audiatur et altera pars5, wenn er mit seinem Gewissen als Historiograph nicht vereinbaren kann, nur eine Version wiederzugeben, oder wenn er keine als einzig wahre zu beurteilen vermag, so dass er dem Leser die Entscheidung anheimstellt. Herodots oberster Grundsatz ist, alles, was ihm überhaupt zu Ohren gekommen ist, seiner Leserschaft mitzuteilen, auch wenn es ihm noch so kraus und unwahrscheinlich dünkt6; er hat als erster die erste Pflicht des Historikers erfüllt: λεγειν τα λεγομενα.
Herodots Verdienst und zugleich der Anfang der Geschichtsschreibung besteht in dem Vorsatz, grosse Taten ganzer Völker und Kulturkreise dem Andenken der Nachwelt zu erhalten. Sein „Ziel ist die Geschichte der Perserkriege und die Vorgänge, die als Ursache auf diese hinführen“7: kein geringes Unterfangen, das sich von den τοπικαι ιστοριαι (Περσικα des Dionysos von Milet, Λυδικα des Xanthos von Sardes) durch das umfassendere und weiter gespannte Blickfeld abhebt. Selbst wenn Herodot von Hekataios, der das Bedürfnis des Überlieferns oder Ableitens nicht empfunden hatte, das Genos des geographischen Berichtes übernimmt8, so erweitert er doch diese Mitteilungen mit Berichten über die Ethnographie des Landes und stellt in den logos schon das historische Moment in den Vordergrund (I 5), ganz zu schweigen davon, dass der Leitgedanke - die Auseinandersetzung Griechen-Perser - unter dem Gesichtspunkt der geschichtlichen Entwicklung der Perser ausgearbeitet wird.
Freilich ist Herodot von dem Typ des Historikers, wie ihn Thukydides später verkörpert, noch entfernt. Man muss ihm mit Cicero9 zugute halten, dass er die Geschichtsschreibung begründet hat. Manche Eigenheiten, die im Vergleich mit Thukydides befremdend aufstossen, sind auf seine Pionierarbeit zurückzuführen. Dazu gehört auch Herodots Stil, mag man darunter grammatische Eigentümlichkeiten oder kompositorische Besonderheiten fassen.

lexis eiromene

Aristoteles prägte in seiner ars rhetorica10 den Begriff der λεξις ειρομενη (= oratio perpetua, Aquila 18), als deren Vertreter er Herodot und alle anderen alten Prosaiker rechnete. (Regenbogen, 1930, S. 202 ff) weist auf die häufig missverstandene Stelle hin, zu der Lausberg11 folgende Definition gibt: Die lexis eiromene ist „die parataktische Aneinanderreihung der Sätze in der natürlichen Reihenfolge ihres Inhalts.“ Ferner: Kennzeichnend ist „das Fehlen einer gedanklichen Verästelung: Der Gedanke schreitet gradlinig weiter, ohne dass ein Ende abzusehen ist.“ Sie steht im Gegensatz zu der λεξις κατεστραμμενη (=oratio vincta atque contexta, Quint. 9, 4, 19), die als die „vollkommenste Vereinigung mehrerer Gedanken in einem Satz“12 den Stil der Periode (periodus, Quint. 9, 125), darstellt: „In der Periode werden … die die Periode zusammensetzenden Gedankenelemente in eine gegenseitige Beziehung gebracht, die für die kreisförmige Struktur des Ganzen nutzbar gemacht wird.“ (ebd.) Die Vollendung dieser Technik ist erst später - bei Cicero - erreicht worden; Herodot bedient sich noch der lexis eiromene:
  1. 1)In I 43, II 124, III 5, V 49, VI 127 wird ein Stichwort durch ein deiktisches Pronomen, in I 8, V 35, VII 121 durch dasselbe Wort wieder aufgenommen, das den noch unvollständigen Satz in einem neuen Ansatz weiterführt13. Hier wird der lineare Charakter des Stils deutlich: Der Satz kommt nicht zu dem logischen, anfangs angelegten Ende, sondern die neuen Gedanken haken bei dem Stichwort ein, werden eine Weile fortgeführt, dann aber wieder von neuen abgelöst, die keinerlei Bezug mehr auf das vorher Gesagte nehmen, sondern ihren Blick auf das Kommende richten. Wenn man die lexis eiromene weiter fasst und interpretiert, kann man dazu auch die Eigentümlichkeiten zählen, die von der Mündlichkeit des Vortrages her den Stil einer Schrift beeinflussen. Man stelle sich einmal vor, Herodot habe den Text seiner Historien in einer Lesung vorgetragen: Dann hätte er wenig an seinem Werk ändern müssen. Damit ist folgendes gemeint: 
  2. 2)An manchen Stellen (III 6, 37, IV 81, 99) führt Herodot einen fingierten Zuhörer (fictus interlocutor) ein, der Einwände erhebt und nach der Richtigkeit oder Genauigkeit der Angaben fragt. In einem Vortrage ist dieses Motiv ein beliebtes Mittel, um Frager zu übergehen und sich selbst den Anschein der kritischen Selbstprüfung zu geben. Dieser Trick mag zwar den antiken Rhetorikern bekannt gewesen sein, doch ist es seltsam, dass er noch in der literarischen Gattung des Schriftwerkes auftaucht, das doch einen Zuhörer, der mit dem Verfasser in einem Dialog steht, an sich gar nicht kennt. 

  3. 3)Hin und wieder (II 29, VI 63) wird der „Zuhörer“ sogar angesprochen. Es ist schwerlich anzunehmen, dass der Geist des Dialogs Redner-Zuhörer noch so lebhaft den Menschen innewohnt, dass er sich sogar in der Korrespondenz Schriftsteller - Leser fortsetzt. 

  4. 4)Häufig (I 36, II 51, III 1) wiederholt Herodot wichtige Worte oder Namen, deren ständige Nennung uns überflüssig, ja sogar störend, erscheint. Ein späterer Schriftsteller vermiede wegen der Flüssigkeit und der gefälligeren grammatischen Unterordnung die wiederholte Aufzählung. 

  5. 5)Nicht zu zählen sind die Fälle, in denen Herodot zur Verdeutlichung eines Wortes noch ein Demonstrativpronomen hinzusetzt. Nur als Auswahl: In den Kapiteln III 1-3, auf zwei Oxfordseiten, wird achtmal das Pronomen  verwendet. Man stellt sich geradezu Herodot vor, wie er mit dem Finger auf jene Personen weist. Die Sätze erhalten damit  einzelne, kurze Schwerpunkte der Betonung.  

Die ungewohnten Stilelemente werden verständlich, wenn man bedenkt, dass sie „die ganze Beweglichkeit der Rede, die mehr nach psychologischer als nach logischer Verknüpfung dahingleitet“ (Pohlenz, 1937, S. 210) ausmachen. Es ist einleuchtend, dass auf diese Weise ein Redner vor einem Publikum gesprochen hat, das er ständig an das eben Erwähnte erinnern und dem er die jeweils neuen Namen einprägen muss. Ein Leser kann eine oder mehrere Seiten zurückblättern, wenn der Zusammenhang eines Namens oder Wortes ihm unklar ist; ein Zuhörer jedoch, der nur das schnell verfliegende Wort vernimmt, muss immer wieder auf das logische Gerüst - und zwar mit drastischen Mitteln - gestossen werden: Daher die umständliche, weil verdeutlichende, und holprige, weil einprägende Diktion Herodots.

Spätestens an dieser Stelle taucht die Frage auf, weshalb die Mündlichkeit in Herodots Werk so stark vertreten ist, dass sie fast in jedem Kapitel aufstösst; oder m.a.W.: Wie konnte sie in Herodots Historien eindringen? Eine Möglichkeit wäre (Jacoby, 1913), dass Herodot während oder im Anschluss an seine Reisen die einzelnen logoi verfasste und als in sich abgeschlossene Abschnitte (z.B. II Buch) seinen Landsleuten in Lesungen vortrug. Später dann, unter dem Einfluss des Perikles und aus Begeisterung für das perikleische Athen14, erkannte er seine Berufung zum Historiker der Griechen und baute die schon vorhandenen „Vorlesungs-Manuskripte“ in seine griechische Geschichte ein15. So könnte man auch den stark mündlichen Einschlag erklären.

Diese Deutung ist nach meiner Meinung nicht stichhaltig: Denn wenn die stilistische Reinheit und Klarheit der logoi während des Vortrages unter der Mündlichkeit gelitten hätten, würde Herodot den wirklich unbeholfenen und archaischen Stil des Mündlichen, mit dem das Schrift-Griechisch ja nicht behaftet gewesen wäre - so lautet die stillschweigende Unterstellung -, bei der Niederschrift beseitigt und verbessert haben. Wenn ein zeitlicher Abstand zwischen den Vorträgen und der endgültigen Niederschrift in den Historien bestanden hätte, dürften demnach in Herodots Werk die Eigenheiten des Mündlichen gar nicht auftreten. Da dies aber doch der Fall ist, müssen das, was wir in weiterem Sinne unter lexis eiromene verstehen, und die Schriftprosa identisch sein. M.a.W.: Herodot und seine Zeitgenossen haben so, wie sie gesprochen haben, auch geschrieben. Untereinander mögen sie etwas voneinander abgewichen sein, aber der Grundzug der lexis eiromene war ihnen gemeinsam. Cum grano salis verkörpert Herodot also den Prosastil seiner Zeit, und 1) - 5) könnten genau so gut bei Hekataios, Charon, Dionysios festzustellen sein. Wenn (Regenbogen, 1930, S. 210) meint, dass Herodots Sprache „auch nicht die einfache Sprache seiner literarischen Vorgänger und Zeitgenossen darstellt“, so urteilt er - besonders, wenn man die Stelle im Zusammenhang liest - global und gedenkt nicht der Angabe bei Aristoteles, der es ja wohl noch besser wissen muss: Ταυτη γαρ προτερον μεν απαντες νυν δε ου πολλοι χρωνται.16 So sehr, dass man Herodot ein derartiges Prädikat zuerteilen könnte, hat sich Herodot von seinen Zeitgenossen nicht entfernt. 

Homerisches

Dionysios Longinus, der angebliche Autor der Schrift περι υψους, nennt Herodot Ομηρικωτατος17. Soll das bedeuten, dass Herodot gerne und häufig in seine Reden homerische Wendungen zur Freude seiner Leser/Hörer einflocht, die ihren Homer ja noch kannten ? Hat Herodot gar literarischen Diebstahl an dem grossen Epopöen begangen? Nichtsliegt näher, wenn man liest:

 

  1. 1.βασιλευ, κοιον εφθεγξαο επος (V 106, ähnlich VII 103) nach Ilias I 552 ποιον τον μυθον επεις - 

  2. 2.VII 28 in seiner epischen Breite nach Ilias IV 350 ff, X 413 ff –  

  3. 3.I 128 αλλ ουδ ως κυρος γε χαιρησει nach Odyss. I 6 und Ilias XX 362 ff. - 

  4. 4.III 151 και τις αυτωω ειπε τουτο το επος nach Od. XXI 396. 

Wie steht es18 mit der bei Herodot so oft auftretenden Tmesis ? In der Trennung von Präposition und Verb durch  kommt sie sehr häufig im II. Buch, in den anderen Büchern nur sehr selten vor19. Die echte Tmesis ist ebenfalls selten: II 181 κατα με εφαρμαξας; III 78 ανα τε εδραμον; VII 15 ανα τε εδραμε. Der erste Gebrauch ist volkstümlich und in den sozial tiefen Schichten beheimatet, in den logoi fehlt die Tmesis, da sie von Herodot ausgearbeitet wurden. Zum zweiten Gebrauch: Die bei Homer noch unbedeutende Tmesis ist später durch die dramatische Prosa20 zum Kunstmittel erhoben und so zu Herodot überliefert worden, der sie dann, wenn die Spannung des Geschehens und die Intensität des Ausdruckes es erforderten einsetzte.
  1. 1)Die Iterativformen, die bei Herodot vorkommen21, gehen nicht direkt auf Homer zurück, wenn auch sein Einfluss unverkennbar ist. „Man erkennt aus der ganz geringen Zahl der Übereinstimmungen (!) mit Homer, dass hier eine Erscheinung vorliegt, die noch nicht erstarrt ist.“22 
  2. 2)Eigennamen verwendet Herodot abweichend von der Sprache des Alltags, indem er die Anrede mit Vaternamen anwendet, wie er auch III 1 erwähnt: ω παι Καμβυσεω (I 124), ω παι Κυρου (III 14, 34), ω παι  Υστασπεος (III 71), ferner VII 129, VII10, 14, IX 78 – also an Stellen höchster Spannung. Dazu Homer II. XVIII Ω μοι Πελεος ηψιε δαιπηρονοσ23 und Sophokles Achaier vers. 15: Ω παι Πηλεος. Ausserdem verwendet Herodot die Wendung παιδας Λυδων I 86, I 27, III 21; Αιθιωπων παισι V 49, VII 114. So heisst es bei Aischylos, Perser 402 Ω παιδες Ελληνων. Herodot ersetzt das homerische υιοσ (υιες Αχαιων) der Sprechsprache durch das παις der Sprechsprache. Υιοσ kommt bei Herodot nur selten vor24.  

In Worten und Formen finden sich homerische Einschüsse, sie werden jedoch selten in künstlerischer Absicht eingesetzt, meist sind sie normale Bestandteile des logos. Weil der homerische Einschlag bereits vor Herodot den Weg in den logos gefunden hat, fehlt er in der Historie; dies erklärt, wie sich epische Stellen in die Alltagssprache umsetzen konnten. Herodot steht scheinbar allein mit diesen Merkmalen da, ist jedoch das späte Glied einer langen Entwicklungsreihe. Dass das Epos ihn nur äusserlich und oberflächlich berührt, zeigt die Tatsache, dass Herodot die Tat des Leonidas (VII 224), die sich doch ideal zu einer epischen Darstellung eignete, nach dieser Art zu schildern sich nicht hinreissen lässt.

Sophistik

Das Verhältnis Herodots zu den Sophisten ist nicht eindeutig zu klären. (Diels, 1887) stellt oft „die zugespitzte Antithese und die Periodenzirkelei der gleichzeitigen Sophistik (fest), die freilich dem biederen Halikarnassier anfänglich noch etwas sauer wird.“ (Schmid/Stählin, 1912) schliesst von vereinzelten Sentenzen, Antithesen und Oxymora auf den Einfluss der sophistischen Kunstprosa. (Norden, 1958): „H. war ... von dem neuen Geist der Sophistik wie jeder Gebildete der damaligen Zeit ergriffen.“ (Nestle, 1908) stellt im Gegensatz zu (Meyer, 1966, S. 202) einen Einfluss der sophistischen Eristik in Gesprächen fest, die die Erzählung beleben oder ein Thema von verschiedenen Seiten erörtern (Kroisos-Solon I 30 ff, Rede der Tochter Perianders III 53, der Aufruf des Gobryas III 73, die Verfassungsdebatte III 80, Artabanes-Xerxes VII 46 ff). Deutlich beweist dies VII 50: ει δε εριζων und IX 27: επει δε ο Τεγεητης προεθηκε και παλαια και καινα λεγειν.

Ein Einfluss wäre allerdings nur mittelbar durch die Werke der Sophisten gegeben, persönlich hat Herodot niemanden der Sophisten gekannt. Es ist wohl nicht voreilig oder oberflächlich geurteilt, wenn man sich Aly anschliesst: „Die Sophistika bleiben Einzelfälle, an die sich Herodot nie gewöhnt hat, die er aber auch in seinen Stil wie die Tragödie einbaute. Herodot hat alles aufgesaugt, was ihm die Neue Welt zu bieten vermochte.“25

Tragödie

Als Herodot in Athen weilte, war er mit dem grossen Tragöden Sophokles befreundet, dessen Einfluss seinen Niederschlag in den Historien gefunden hat. Wenn man sein Werk nach diesem Gesichtspunkt untersucht, wird man feststellen, dass die Tragödie dann Hintergrund/Vorlage ist, wenn die Handlung oder die geistige Auseinandersetzung es erfordern und dazu einladen26. (Aly, 1921, S. 279 ff) zählt eine Reihe von Begebenheiten auf, deren Grundzug zutiefst tragisch ist, ja den Stoff zu einer Tragödie geben könnte:
  1. 1)Gyges wird an derselben Stelle zum Mord verborgen, von der aus er auch die Frau des Kandaules gesehen hat I 11;  

  2. 2)Kroisos verzeiht Adrestos die Tötung seines Sohnes, Adrestos jedoch entleibt sich I 45;  

  3. 3)Kambyses, durch Psammenits Worte beeindruckt und gerührt, will dessen Sohn begnadigen, der aber schon geopfert worden ist III 14;  

  4. 4)Periander erklärt sich zu einer Einigung mit seinem trotzigen Sohn Kypselos bereit, der unterdes jedoch von den Korkyräern ermordet worden ist III 53;  

  5. 5)Kambyses verletzt sich an derselben Stelle, an der er auch den Apisstier verwundete.  

Man vergleiche dazu Aias: Der Bote des Teukros kommt nur wenig zu spät, Aias ist schon tot / Antigone: Antigone hat schon Selbstmord begangen, als sie begnadigt wird. Auch die tragische Ironie weiss Herodot hervorzuheben: Als die Spartiaten von Xerxes Sühne für den Tod des Leonidas forderten, erwiderte er lachend, Mardonios werde ihnen die gebührende Genugtuung leisten ! (VIII 114) Xerxes wird damals noch nicht gewusst haben, dass sein Feldherr später bei Platää mit seinen Truppen aufgerieben wird (IX 63). dazu Ant. 764: Haimon sagt: „Du wirst mich nie wiedersehen!“ und Oidipous ruft aus: „Licht, sähe ich dich zum letzten Male!“ (1183)

Aus der Tragödie mag auch das Motiv des Warners stammen, der vor wichtigen Unternehmungen - wenn auch vergeblich - zur Besinnung und zu nüchterner Überlegung aufruft: So rät ein weiser Lyder namens Sandanis Kroisos ab, gegen die Perser zu ziehen; doch sein Rat wird nicht beachtet, er schiebt die Katastrophe nur auf (I 71) Das retardierende Moment des Warners tritt nochmals hervor in der Rede des Artabanos, der Xerxes davon abrät, gegen die Griechen zu ziehen: Es hat jedoch keinen Zweck: Xerxes lässt sich davon abbringen, in sein eigenes Unglück zu rennen.

Die Gnomen, die Herodot verwendet (I 96, VII 10, VII 160 u.ö.) sind zwar in den Chorliedern vertreten, doch können sie auch auf praktisch-philosophische Formeln und feste Wendungen, wie sie in ähnlicher Manier die Sieben Weisen prägten und wie sie in aller Munde waren, zurückgehen; die Gnomen bei Herodot sind nicht unbedingt von der Tragödie her abzuleiten.

Sehr stark vertreten ist allerdings der (tragische) Gedanke der Vergänglichkeit, wie ihn - erstaunlicherweise - Xerxes äussert, als er beim Anblick seiner Heermassen in Tränen ausbricht und beklagt, dass von seinen Soldaten in 100 Jahren niemand mehr leben wird (VII 46). Herodot selbst weiss von dem Werden und Vergehen der Menschheit (I 5); für ihn als Historiker war jene pessimistische Einsicht der allgemeinere Hintergrund, vor dem die persische und griechische Geschichte abrollte. Der Gedanke des Wandels entstammt nicht dem logos, da das Volk, die Geschichtenerzähler keinen Blick für das Absterben von Völkern und Kulturen hatte: Er gehört zweifellos der Tragödie an. Eine fast wörtliche Übereinstimmung mit der Tragödie findet sich in der Geschichte von Polykrates, den Amasis - unverständlich, dass gerade ein Barbar dies äussert - vor der Eifersucht der Götter warnt: επισταμενω το θειον ωσ εστι φθονερον (II 40) und Aischylos, Agam. 947: θεων μητις προσωθεν ομματος βαλοι φθονος. Es leuchtet ein, dass der Einfluss der Tragödie in der Historie, wo er keinen Sinn hätte, fehlt und sich nur auf den logos beschränkt.

Komposition

Am weitesten noch gehen die Meinungen über die schriftstellerische Qualifikation Herodots auseinander. Dass er mit einigem Recht, aufgrund seiner Fähigkeiten als Geschichtsforscher, der erste Geschichtsschreiber des Abendlandes genannt werden kann, habe ich eingangs dargelegt. Dass auch die Komposition seiner Historien erlaubt, Herodot dieses Prädikat beizulegen, soll im folgenden zu beweisen sein.

Vorgehalten wird Herodot, sein Werk lasse einen durchgängigen Leitfaden vermissen. Bei seiner Vorliebe, alle Berichte - auch Nebensächliches, Gerüchte und Ammenmärchen - in seine Historien einzubauen, dabei aber uferlos ins Detail geratend, habe er verabsäumt, geradlinig und zielstrebig vorzugehen. Sein Werk werde von einer solchen Unmenge von Exkursen und Nebenbemerkungen zerfurcht, dass eine Einheit schwerlich noch anzunehmen sei. Seine Historien seien keine Darstellung von Geschichte, sondern eine Anhäufung von Geschichten27.

Entschuldigen könnte man diese Vorwürfe damit, dass mit Herodot die griechische Kunstprosa erst beginnt. Dem Anfang, dem Versuch, der nachher von Erfolg gekrönt wird, kann man nicht die Vollendung entgegenhalten und ihn an ihr messen. Vielmehr, eine Blütezeit wird umso reizvoller, je bekannter die kümmerlichen und unbeholfenen Anfänge werden. Erst im Vergleich mit diesen können wir ihr hohes Mass würdigen. Aber ich glaube, dass diese Vorwürfe auch widerlegt werden können. Es muss also möglich sein, aus der Anlage der Historien zu beweisen, dass das Werk einheitlich und kunstvoll geplant und niedergeschrieben worden ist, dass es ein Leitmotiv hat, dem die übrigen Berichte und Erzählungen sinnvoll zugeordnet sind.

Herodot selber sagt, als er wieder einmal eine Notiz anfügt: προσθηκας γαρ δη μοι ο λογος εξ αρχηες εδιζετο (IV 30): „Zusätze strebte mein Werk von Anfang an“. Herodot weiss, dass diese eingefügten Bemerkungen - von Nebensätzen angefangen bis zu ganzen Büchern - Zugaben sind, die nur durch ein Stichwort bedingt zur Generallinie gehören. Die Exkurstechnik ist in den verschiedenen Ebenen festzustellen: So bedingt die Auseinandersetzung Griechen-Perser die Schilderung der persischen Geschichte; in deren Verlauf löst der Feldzug des Kambyses den Ägypten-Logos aus, dieser die Geschichte von Psammetich, der wiederum die Schlüsselfigur für die Frage ist, welches Volk der Erde das älteste sei. Von da aus spinnt Herodot den Faden weiter aus: Über die Beschreibung des Landes (Geographie 4-35), der Leute und ihrer Bräuche (Ethnographie 35-99) kommt er in der Historie (99-182) Ägyptens bis zu Pharao Amasis, gegen den besagter Kambyses zu Felde ziehen will. Dieser (Um-) Weg ist nicht gerade kurz - er umfasst 182 Kapitel - oder geradlinig, vielmehr gespickt mit Anekdoten und Einschüben. Aber dennoch kommt Herodot wieder auf den Punkt zurück, an dem er die Generallinie verlassen hat. Es würde zu weit führen, den Aufbau des Ägyptenlogos schematisch darzustellen; aber soviel kann man von ihm sagen, dass der Vorwurf des ziellosen Dahinplauderns sich nicht halten lässt. Vielmehr müssen wir mit Fraenkel von einer vollendeten „Rahmen-und Schachteltechnik“ sprechen. Von dem schematischen Aufbau her kann man Herodots Technik die Kunst der Ringkomposition nennen: Der „Ring“ der Erzählung schliesst sich wieder, indem Herodot nach allerlei Exkursen mit einem τοιοσδε, ουν, δε u.a.m. wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt.

Aus diesem Grunde darf man nach meiner Meinung nicht durchweg nur von der reihenden Erzählform sprechen, die ein Ereignis oder einen Bericht an den anderen fügt. Zwar ist die Methode, wie Herodot grundsätzlich verschiedene Abschnitte mit μεν / δε (I 4/5, 85/86, 94/5, II 5/6, IV 82, VII 124, VIII 39/40, 144,9,1) verknüpft, für uns befremdlich. Es wäre jedoch verfehlt, diese Erscheinung zu überbewerten, da lediglich zwei Abschnitte formal aneinandergeknüpft werden sollen. Im grossen gesehen lässt Herodots Technik der Ringkomposition die Anreihung einzelner Sinnabschnitte nur untergeordnet erscheinen. Schadewaldt könnte für uns zusammenfassen: „Es sind die sogenannten logoi geographischen und ethnographischen Inhalts, daneben aber auch Abschweifungen aller Art, die die Einheit des Werkes und seiner historischen Grundgedanken zu sprengen schienen und in Herodot einen primär Naturkundigen vermuten liessen. Demgegenüber ist es eine Erkenntnis von fundamentaler Bedeutung, dass keine dieser logoi, mögen sie auch gelegentlich überquellen, müssig und zufällig an ihrem Orte stehen.“ sie sind „innerlich von vorneherein für ein Geschichtswerk, nicht für eine wahllos unterrichtende Völkerkunde konzipiert.“ (Schadewaldt, S. 111).

Einen b Ruf hat sich Herodot durch die Novellen erworben, die zahlreich allerdings nur in der ersten Hälfte seines Werkes sind, bevor die historischen Ereignisse auf die Perserkriege hindrängen. Die Novellen, die von Herodot mit besonderer Sorgfalt ausgestaltet wurden, sind geradezu eine neue Stilgattung innerhalb des herodoteischen Werkes. Ihr Thema lässt sich nicht festlegen, es sind immer Ereignisse, die wegen der Schläue, Grausamkeit, Heiterkeit o.ä. des Berichteten denkwürdig geworden sind und mit grossen historischen Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden; oder wie Aly sagt: „Erzählungen, bei denen das Menschliche die Bedeutung der historischen Einzelperson überragt, die zufällig zu ihrem Träger geworden ist.“28
Aly vergisst zu erwähnen oder sagt es nicht ausdrücklich, dass das Ereignis nur deshalb weitverbreitete Achtung gefunden hat und berichtet wird, weil die historische Persönlichkeit darin eine Rolle spielt; oder anders formuliert: Es ist gar nicht gesagt, dass sich dieses Ereignis mit diesen Personen zugetragen hat - es ist möglich, dass ein wichtiger Mann mit seinem Namen dazu herhalten muss, damit eine Geschichte, die mit ihm nicht das Geringste zu tun hat, aber immerhin sehr bemerkenswert ist, erzählt werden kann. Man kann daran zweifeln, ob Gyges auf die angegebene Weise an die Macht kam (I 8), ob die Ehe des Amasis mit Ladike (II 181) historisch ist, ob das fleissige Mädchen dem Dareios über den Weg gelaufen ist, ob die köstlichen Geschichten um das Schatzhaus des Rhampsinit nicht Schwänke sind. Wenn es auch solche sind, so hat Herodot jedenfalls verstanden, durch die direkte Rede (I 8, III3, 42, 78, V 51, VIII 26, III 119), durch Vermeiden des Abstrakten29 mit dem Motiv des Gegenspielers (Kyros-Astyages, Solon-Kroisos, Dareios-Mager, Gyges-Kandaules, Atys-Adrestos, Periander-Sohn), und den unzähligen Vorzeichen und Träumen eine Spannung hervorzurufen, die keineswegs gekünstelt ist.

Auf den vorangegangenen Seiten konnten die Probleme nur kurz skizziert werden. Der Stil Herodots ist zu verzweigt und von einer Unzahl von Einzelfragen durchsetzt, die eine Darstellung in der Gesamtheit erschweren, und von denen jede eine Einzeluntersuchung verdiente. Dieses Referat sollte einen Überblick über die anfallenden Probleme geben.

Literaturverzeichnis

Aly, W. (1921). Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot. Göttingen.

Diels, H. (1887). Herodot und Heketaios. Hermes, 22, S. 411 ff.

Ebeling, H. (1871 ff). Lexicon Homericum. Leipzig: Teubner.

Focke, F. (1927). Herodot als Historiker. Stuttgart.

Jacoby, F. (1913). Herodot. In RE, Suppl. 2. Berlin.

Kaibel, G. (1893). Stil und Text der politeia Athenaion. Berlin.

Lausberg, H. (1960). Handbuch der literarischen Rhethorik. München.

Meyer, E. (1966). Forschungen zur alten Geschichte, Nachdruck. Hildesheim: Olms.

Nestle, W. (1908). Herodots Verhältnis zur Philosophie und Sophistik. In Programm Schöntal. Schöntal.

Norden, E. (1958). Antike Kunstprosa, Band 1. Darmstadt.

Pohlenz, M. (1937). Herodot. Leipzig.

Regenbogen, O. (1930). Herodot und sein Werk. Antike, 6.

Schadewaldt, W. (kein Datum). Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Antike, 10, S. 144.

Schmid/Stählin. (1912). Geschichte der griechischen Literatur, 6. Aufl.

 

 

 

 

 

1 Referat SS 1967.

2 Cicero, de leg. I,5.

3 (Schadewaldt, S. 161), nach Heketaios‘ Einleitung: ως μοι δοκει αληθεια ειναι.

4 So in VII, 139; dazu (Regenbogen, 1930, S. 216).

5 (Pohlenz, 1937, S. 193).

6 VII 152 εγο δε οπηειλο λεγειν τα λεγομενα, πειτηεστηναι γε μεν ου πανταπασιν οπηειλο και μοι τουτο το επος εξετο ες παντα λογον und III 9, I 214.

7 (Pohlenz, 1937, S. 189).

8 Hermogenes übertreibt de ideis II, 423, Sp.23: Εκεταιος παρ ου μαλιστα ωφελεται ο Ηροδοτος.

9 Cicero, de or. II 55: Herodotum illum, qui princeps genus hoc [=historiae scribendae] ornavit.

10 III 9 p 1409 a 27-31, 34 f.

11 (Lausberg, 1960, S. 202 ff).

12 (Lausberg, 1960, S. 458).

13 (Kaibel, 1893, S. 66).

14 Dagegen (Regenbogen, 1930, S. 224).

15 Dagegen mit (Regenbogen, 1930, S. 217): Da nur logoi aus dem Osten, aus den Ländern, die mit Kyros, Kambyses, Dareios und Xerxes in Berührung kamen, behandelt sind, muss der Gegensatz Griechen-Perser schon vorher konzipiert worden sein.

16 Aristoteles a.a.O.

17 Über das Erhabene, 13,3.

18 Stellenangaben nach (Aly, 1921, S. 273 ff).

19 I 194 / II 39,40,47 (2),70, 85, 86, 87 (2) 88, 96, 122, 172/ III 82 / IV 60, 196 / VII 10.

20 Soph. Phil.847: απο μ ολεισ; Ant. 427: εκ δ αρας κακας ηρατο.

21  I 36, 100, 148, 186, 196 / II 13 / III 117, 119 / IV 42, 43, 78, 128, 129, 130, 200 / VI 12(2), 133 (H.) / VII 5, 33 (H.),41 106(2), 119(6,3 H.), 211(H.) / IX 40 (H.), 74 (H.)

22 (Aly, 1921, S. 270).

23 siehe auch (Ebeling, 1871 ff, S. 359).

24 I 109 / HI 67 / IV 84 / IX 113.

25 (Aly, 1921, S. 290).

26 (Diels, 1887), (Jacoby, 1913, S. 488).

27 vgl. dazu (Focke, 1927, S. 47 ff), (Jacoby, 1913, S. 483).

28 (Aly, 1921, S. 238).

29 V 92: Herodot sagt nicht: Kypselos war habgierig und grausam, sondern: viele Korinther beraubte er ihres Vermögens, die meisten ihres Lebens. III 151: nicht: Die Babylonier waren hinter ihren dicken Mauern sicher, sondern: Sie spotten: "Was sitzt ihr da, ihr Perser ?...." u.a.m.