Die Geschichte der neuzeitlichen Juvenaleditionen ist gleichzeitig eine Geschichte der Textkritik und der philologischen Methode. Wohl kein Text hat unter der Bearbeitung und Beurteilung durch Philologen so viel erleiden müssen wie der Juvenals. Die Überblicke, die (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943) und (Housman 1931) über die Editionsgeschichte der letzten 100 Jahre geben, zeigen Auffassungen von extremer Gegensätzlichkeit. Wenn die frühere Kritik in der Beurteilung von echt und unecht „zwischen bodenloser Gewaltsamkeit und stumpfem Überlieferungsglauben“ (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 265) schwankte, kann man nur hoffen, dass wir daraus lernen. Housman war auf seine Art in manchem vorbildlich, wenn er auch von Überlieferungsgeschichte gar nichts wissen wollte (Housman 1931, XXXIII); Knoche und Jachmann aber haben den Weg gezeigt, den die moderne Textkritik hinsichtlich der Athetesen zu gehen hat: Unter Hinzuziehung von Paläographie und Handschriftenkunde ist der Text - ohne inhaltliche Vorurteile - auf Grammatik, Stilistik, Metrik und Logik im Kontext zu prüfen. Überlegungen, die „den“ Stil oder „den“ Juvenal berücksichtigen wollen, sind fehl am Platz.
Wenn man nicht mit den obengenannten Mitteln beweisen kann, dass ein Vers interpoliert ist, sondern wenn als einziges Argument gegen die Echtheit die „unjuvenalische“ Art oder allgemein-inhaltliche Bedenken angeführt werden, sollte man sich davor hüten, den Text anzurühren: Solange nicht der schlüssige Gegenbeweis erbracht ist, ist ein Vers original. So scheint Knoche in seiner Edition an einigen Stellen nach meiner Meinung zu weit gegangen zu sein: Das, was nur ungeschickt im Aufbau oder Stil wirkt, muss nicht unjuvenalisch sein. Denn solche Verse zu streichen, heisst in den gleichen Fehler zu verfallen wie die antiken Editoren; das Bestreben,. einen guten, logischen, schönen Text zu geben, kann dann nämlich auch zur Glättung führen, freilich nicht durch Interpolation, sondern durch Athetese.
Noch ein Wort zur Argumentation: Oft ergibt es sich, dass ein und derselbe Sachverhalt entgegengesetzten Argumentationen zugrunde liegt: Wenn z.B. ein Vers in einer oder mehreren Handschriften fehlt, so ist es möglich, dass das Fehlen an der einen Stelle (z. B. 8, 6 bis 8) als ein Indiz (unter anderen) für die Unechtheit gewertet werden muss; an einer anderen Stelle (z. B. 5, 148) ist es erlaubt oder gar erforderlich, über diese überlieferungsgeschichtliche Tatsache hinwegzusehen, da andere, besonders inhaltliche Gründe für die Echtheit des Verses sprechen. Es wäre falsch, als einzig massgebende Argumentationsebene die Überlieferungsgeschichte (oder den Inhalt) zu erachten. Andererseits ist es natürlich genauso bedenklich, sich die Argumente für oder wider die Echtheit wahllos aus den gegebenen Anhaltspunkten herauszusuchen und zurechtzulegen, wie es gerade passt. Ich habe versucht, an jeder Stelle diejenigen Gründe hervorzuheben und gegeneinander abzuwägen, die die Problematik einer Textstelle an ehesten und klarsten wiedergeben.
Ausgewählt wurden aus der ersten bis achten Satire die Textstellen, die in etwa repräsentativ die Problematik der Juvenal-Athetese aufzeigen.
praeterea sanctum nihil aut ab inguine tutum,
non matrona laris, non filia virgo nec ipse
sponsus levis adhuc, non filius ante pudicus;
horum si nihil est, aviam resupinat amici.
scire volunt secreta domus atque inde timeri.
Lit.: (Housman 1931, XXXIII); (Knoche, Ein Juvenalkodex des 11. Jahrhunderts in beneventanischer Schrift ... 1928, 357); (Jachmann, Eine Elegie des Properz. Ein Überlieferungsschicksal 1935, 224 f); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940) 66,124,301.
In der dritten Satire behandelt Juvenal in einer längeren Passage die Charaktereigenschaften der Griechen, die er zumeist als Haussklaven kennengelernt zu haben scheint. Nachdem er sie als Gesinnungslumpen und Claqueure bezeichnet hat (Vers 100 bis 108), wettert er über ihre unmässige sexuelle Begehrlichkeit, der jedermann im Hause zum Opfer falle, und schliesst dann an: „scire volunt secreta domus atque inde timeri“. In Vers 109 bis 112 war eine gewisse Steigerung aufgebaut worden durch die Aufzählung der Personen, an die sich die Griechen heranmachen: Zuerst die weiblichen Mitglieder der Familie (Mutter und Tochter), dann die männlichen (Bräutigam und Sohn) - die Homosexualität hält Juvenal für eine spezifisch griechische Perversion -, und wenn da nichts zu machen ist, muss die Grossmutter des Hauses herhalten.
Wenn man diese drastische Schilderung gelesen - und sozusagen noch im Ohr hat, ist man verblüfft über die platte Aussage von Vers 113, die dazu noch einen abweichenden Tenor hat: Darin wird doch gesagt, dass die Griechen Interna der Familie erfahren wollen, die sie zu Intrigen benutzen können. Sie sind vielleicht darauf aus, durch auf diesen Interna basierende Verleumdungen Zwistigkeiten innerhalb der Familie zu stiften oder einen Angehörigen der Familie, durch die Preisgabe von Geheimnissen anderer für sich einzunehmen. Dahinter steht also der Typ des z.B. aus der griechischen Komödie hinreichend bekannten Sklaven, der die Fäden der Familienpolitik in seiner Hand hat. Zu diesem Zweck würden dann die Griechen, wenn wir Juvenal glaubten, sich an alle (!) Mitglieder der Familie heranmachen! Es ist allerdings fraglich, ob den Griechen - auch nach Juvenals Meinung - die „libidinousness“ (Housman 1931, p.XXXIII) wirklich nur Mittel zum Zweck war: Juvenal prangert doch in erster Linie die Heftigkeit der libidinousness der Griechen an, die vor keinem Mitglied der Familie halt macht; v.109 bis 112 hat doch hyperbolischen Charakter: Niemand ist vor den Griechen sicher, jeder hat von den Griechen Unverschämtheiten zu gewärtigen, und nicht: dass er ausgehorcht wird.
quid refert igitur, quantis iumenta fatiget
porticibus, quanta nemorum vectetur in umbra,
iugera quot vicina foro, quas emerit aedes
nemo malus felix, minime corruptor et idem
incestus, cum quo nuper vittata iacebat
sanguine adhuc vivo terram subitura sacerdos?
dell. Jahn; Knoche, Clausen.
Lit.: (Housman 1931, XXXII, XXV); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 66, 231); zu 4,9: (Winterfeld 1899, 160).
In der Einleitung der vierten Satire lässt Juvenal wieder Crispinus auftreten, den er als einen Mann schildert, der wegen seiner Laster eher als „monstrum“ (v. 2) zu bezeichnen ist: Crispinus’ Lasterhaftigkeit geht sogar so weit, dass er Witwen verschmäht und nur mit Priesterinnen Unzucht treibt, was ein Gottesfrevel ist.
Im einzelnen heisst es: „Was heisst es schon, wenn er in seinen riesigen Säulenhallen seine Gespanne jagt, wie gross die schattigen Wälder sind, in denen er herumfährt, was für Häuser er erworben hat? Kein Schurke ist glücklich, am wenigsten ein Verführer und dazu noch ein Gottesfrevler, mit dem neulich die Priesterin der Vesta lag … „ (v. 5 bis 10).
Schon in der frühen handschriftlichen Überlieferung hat v. 8 (und auch der folgende) einige Verwirrung gestiftet. In der Handschrift Parisinus 8072 (bei Knoche: R) ist einmal „vitiata“ zu lesen, was eine verständnislose Trivialisierung von „vittata“ ist; weiterhin liest man dort das unverständliche „incestum“ und in v. 8 „magis“: „Niemand ist allzu/besonders glücklich, am wenigsten ein Verführer …“, ein nicht einmal unsinniger Gedanke, der aber im Kontext fehl am Platze ist. Der Schreiber von P hat ursprünglich „maius“ geschrieben, sei es dass er dieses Wort aus seiner Vorlage (bei Knoche: 1), die eine Abschrift von der Vorlage von R (bei Knoche: 2) war, entnommen hat, oder dass er selber es eingesetzt hat; der Korrektor von P änderte nun „maius“ in „malus“ um, was auch in allen anderen Handschriften steht: „Kein Schurke ist glücklich, am wenigsten ein Verführer …“, was aber ebenso abrupt und unvermutet in den Gedankengang von v. 5 bis 7 einbricht (Housman 1931).
Denn worum geht es? Juvenal knöpft sich wieder den Crispinus vor, den er als die Verkörperung der Lasterhaftigkeit charakterisiert. Dann stellt er die rhetorische Frage, was der ganze Reichtum des Crispinus wert ist (v. 5 bis 7); der Leser muss nicht unbedingt etwas Negatives in grossem Besitz sehen. Die Kehrseite folgt v. 9: Dieser so überaus vermögende Crispinus ist ein „incestus“, ein Frevler, der neulich eine Priesterin der Vesta verführt hat! Dies ist die Antwort auf die Frage: Was heisst es schon, wenn einer reich ist, dabei aber gegen die heiligsten Gesetze verstösst? Vers 8 ist daher vollkommen abwegig an dieser Stelle, da es nicht um die Frage geht, ob Schlechtigkeit glücklich macht, sondern darum, ob Reichtum etwas über die Charaktereigenschaften eines Menschen aussagt.
Vilibus ancipites fungi ponentur amicis,
boletus domino, set qualis Claudius edit
ante illum uxoris, post quem nihil amplius edit.
del. Heinecke; Knoche: versus 148 fort. delendus est.
Lit.: (Housman 1931, XXII); (Knoche, (Rezension der Housman-Edition) 1933, 247); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 154, 353).
Ohne jetzt die Argumentation gegenüber anderen Fällen (z. B. 6, 126, siehe unten) nach Gutdünken umdrehen zu wollen: Spricht hier nicht alles dafür, das Fehlen des Verses in einigen wenigen Handschriften als zweitrangig gegenüber den inhaltlichen Argumenten zu erachten? Kann v. 148 nicht ohne weiteres von einem Redaktor aus Unverstand gestrichen worden sein? Vielleicht war er der Meinung, v. 148 sei überflüssig, da es nur um die sozialkritische Gegenüberstellung der Speisen gehe?
… [Messalina] tunc nuda papillis
prostitit auratis titulum mentita Lyciseae
ostenditque tuum, generose Britannice, ventrem.
excepit blanda intrantis atque aera poposcit.
continueque iacens cunctorum absorbuit ictus.
mox, lenone suas iam dimittente puellas,
tristis abit.
125-126 del. Ribbeck; 125 del. Jachmann; 126 del. Knoche.
Lit.: (Hermann 1873, XXIV); (Bücheler 1930, 265); (Knoche, (Rezension der Housman-Edition) 1933, 102); (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 199 ff); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940) 45, 54, 100, 301, 304, 323).
An dieser Stelle wird ein anderes Problem der Überlieferungsgeschichte deutlich: die sogenannte Dezenzinterpolation. Es geht hier um die Vorgänge im Bordell, die zusätzliche Brisanz dadurch erhalten, dass eine berühmte oder vielmehr berüchtigte Person, nämlich Messalina, die Gattin des Kaisers Claudius, die Hauptrolle spielt. Juvenal zerrt ihre Bettgeschichten hervor, um zu demonstrieren, dass selbst eine Kaiserin nicht besser ist als all die anderen Ehefrauen, nämlich genauso ehebrecherisch oder vielmehr noch schlimmer: Messalina verwandelt sieh von Zeit zu Zeit in eine Dirne. Was allerdings dann im Bordell genau vor sich ging, das zu entscheiden, ist den Textkritiker überlassen; denn Juvenals ursprünglicher Wortlaut ist wahrscheinlich nicht eindeutig zu beweisen.
Die Bedenken, die (Knoche, (Rezension von Perret und Vianello) 1928, 102) zu diesem Vers hat, sind nach meinem Dafürhalten nicht allzu schwerwiegend:
Es ist nicht notwendig, „continue“ mit „iacens“ zu verbinden: es gehört doch eher zu „absorbuit“, wie „lassata viris“ (v. 130) bestätigt;
Eine Parallele zu „absorbuit ictus“ habe ich nicht gefunden, aber zu jedem der beiden Wörter gibt es einschlägige Parallelen: „crassibus … semen non tam prolixo provolat ictu“ (Lucr., 4, 1215) und „... meretricem acerrume aestuosam: absorbet ubicumque attigit“ (Plaut., Bacch. 471);
wenn es „cuncti“ (oder „multi“ in einer Handschrift bei (Poelmann 1565)) heisst, so ist das nicht dahergeschwätzt: gemeint ist, dass jeder beliebige Messalina haben konnte, wenn er wollte.
Nun noch zu dem Argument Jachmanns, Vers 125 verstosse gegen die Reihenfolge der Vorgänge: In der Tat ist der Kontext von v. 122 b bis 130 nicht besonders klar und - wenn nicht widersprüchlich - so doch ungeordnet: Zu viele Details von unterschiedlichem Aussagewert und -niveau werden darin aneinandergereiht. Um Klarheit zu schaffen und um vor allen Dingen die Stilebene einzuhalten, bleibt seines Erachtens nichts anderes übrig, als v. 125 zu streichen und v. 126 beizubehalten. Zwar spricht die Tatsache, dass v. 126 nur in Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert ist, dagegen. Aber er konnte von Juvenal sein. Housmans Erklärung: „the verses IV,8 … are verses which Juvenal cannot indeed have written as they stand, but which nevertheless it is absurd to call interpolated, because no intarpolator could have written them either.“ (Housman 1931, XXXII) liesse sich hier folgendermassen umdrehen: Vers 126 kann sowohl von Juvenal aus auch von einem Interpolator stammen und darf daher auch nicht athetiert, sondern höchstens angezweifelt werden. Jachmann meint, dass v. 126 wie viele andere Verse der antiken Dichtung der Dezenzinterpolation zum Opfer gefallen ist, die den „Schmutzvers“ (Bücheler 1930, 265) nicht verantworten wollte (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 199 ff).
Eine endgültig Entscheidung über Echtheit oder Unechtheit dieser beiden Verse erscheint mir nicht möglich. lch würde meinen, dass v. 126 möglicherweise echt und v. 125 sicher interpoliert ist.
Nil non permittit mulier sibi, turpe putat nil,
cum viridis gemmas collo circumdedit et cum
auribus extentis magnos commisit elenchos.
intolerabilius nihil est quam femina dives.
interea foeda aspectu ridendaque multo
pane tumet facies …
dell. Paldamus; Knoche, Clausen.
Lit.: (Teuffel 1889, 557); (Winterfeld 1899, 160); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 66); zu v. 461 bis 463: (Madvig 1887, 556 f); (Housman 1931, 55).
Die Überlegung Teuffels, dass nach v. 460 einige Verse ausgefallen sind, scheint mir einleuchtend; (Teuffel 1889, 557) schreibt:
„Durch die Streichung des viel citierten und wenig befolgten Verses 460, wie sie Paldamus vorschlägt, wird zwar dem Dichter ein berühmter und tadelloser Vers geraubt, in der Hauptsache aber nichts gebessert. Und doch kann ebensowenig der handschriftliche Bestand richtig sein, wegen des interea. Ich vermute, dass der ähnliche Anfang der beiden Verse intolerabilius etc. und interea etc. den Ausfall einiger dazwischen liegenden Verse herbeigeführt hat, worin die Unleidlichkeit einer solchen reichen und deshalb anspruchsvollen Frau und ihr ewiges Keifen mit ihrem Manne kurz ausgeführt war, worauf sich dann interea bezog: während sie aber so ihrem Mann das Leben sauer macht, bietet sie ihm selbst gar nichts; nur für ihren Buhlen hat sie Reize, der Mann bekommt sie nur in abschreckender Gestalt zu sehen.“
Vester porro labor est fecundior, historiarum
scriptores? perit hic plus temporis atque olei plus;
nullo quippe modo millensima pagina surgit,
oumibus et crescit multa damnosa papyro:
sic ingens rerum numerus iubet atque operum lex.
del. Knoche
Lit.: (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940)130, 132, 145); (Hofmann 1951, 80).
An dieser Stelle behandelt Juvenal das Schicksal der Historiker seiner Zeit. Nachdem er ausfuhrlich geschildert und beklagt hat, dass die Poeterei eine brotlose Kunst gewerden sei und die Dichter darauf angewiesen seien, sich und/oder ihre Werke zu verkaufen, nimmt Juvenal auch den Historikern die Illusion, mit Geschichtsschreibung ausser Ruhm auch noch Geld verdienen zu können.
Version a) | Version b) |
P1 und Q1: scriptores. perit hic plus temporis atque olei plus | Omega, P2, Q2: scriptores. petit hic plus temporis atque olei plus |
P1 Q: nullo qippe modo millensima pagina surgit | Omega, P2: namque oblita modi millensima pagina surgit |
Je nachdem, welcher Lesart man folgt, ergibt sich eine recht unterschiedliche Argumentationshaltung:
v. 98-100, 102 mit der Version a):
„Bringt denn eure Arbeit mehr ein, ihr Geschichtsschreiber? Hierbei geht doch (noch) mehr Zeit und (noch) mehr Öl darauf; denn keineswegs entsteht die tausendste Seite: So schreiben es (aber) die ungeheure Masse der Fakten und die Regeln eurer Kunst vor.“
v. 98-102 mit der Version b):
„Bringt denn eure Arbeit mehr ein, ihr Geschichtsschreiber? Einer (aus eurer Zunft) verlangt nach mehr Zeit und Öl, denn ohne jedes Mass entsteht die tausendste Seite und das Opus wächst (euch) allen ohne Rücksicht auf das viele Papier: So verlangen es (aber nun einmal) die ungeheure Masse der Fakten und die Regeln eurer Kunst.“
frange miser calamum, vigilata proelia dele,
qui facis in parva sublimia carmina cella.
Knoches Beobachtungen weisen allerdings in die entgegengesetzte Richtung; „Sie (sc. die Grammatiker des 4./5. Jhdts.) haben … dafür gesorgt, dass sich keine einzige Versinterpolation aus der Seit nach (!) der Redaktion von Phi in unsere gesamte (!) handschriftliche Tradition hat einschleichen und dort festsetzen können.“ (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 78).
Zum Schluss:
Es scheint mir notwendig, der Erörterung über diese Passage die verschiedenen Formen des überlieferten Textes vorauszuschicken. An den stark untereinander divergierenden Überlieferungen wird deutlich, dass es unterschiedliche Ausgangspositionen in der Überlieferung erst nach Phi gegeben hat:
P1
4 | et Curios iam dimidios umerosque minorem |
5 | Corvinum et Galbam auriculis nasoque carentem. |
6 | quis fructus, generis tabulas iactare capaci |
7 | Corvinum posthac multa contingere virga |
8 | fumosos equitum cum dictatore magistros, |
9 | si coram Lepidis male vivitur … |
P2
4 nasumque, 5 Corvini, 6 tabula, 8 famosos
Omega
4 | et Curios iam dimidios nasumque minorem |
5 | Corvini et Galbam aurlculis nasoque carentem. |
6 | quis fructus, generis tabula iactare capaci |
7 | (Fabricium posthac multa contingere virga) |
8 | famosos equitum cum dictatore magistros |
9 | si coram Lepidis male vivitur … |
G1
4 | et Curios iam dimidios umerosque minorem |
7 | Corvini post haec multa contingere virga |
8 | fumosos equitum cum dictatore magistros |
9 | si coram Lepidis male vivitur … |
Gc
5-6 nachträglich beigeschrieben, 8 famosos
U 1
4 | et Curios iam dimidios umerosque minorem |
5 | Corvinium et Galbam auriculis nasoque carentem |
7 | Corvinum posthac multa contingere virga |
8 | fumosos equitum cum dictatore magistros |
9 | si coram Lepidis male vivitur … |
U 2
6 nachgetragen
Daraus lässt sich folgendes rekonstruieren:
P1 hatte von Phi den ursprünglichen Wortlaut und Umfang übernommen. Omega interpolierte in „nasumque“ (v. 4), „Corvini“ (v. 5), „famosos“ (v. 8); von zweiter Hand wurden diese Interpolationen auf P übertragen (Knoche 1940, 84).
In G1 fehlten ursprünglich v. 5 und 6, in U1 v 6. In G kann der Fehler auf einem Augensprung („Corvin-“ v. 5, „Corvin-“ v. 7) beruhen; weshalb gerade nur v. 6 in U ausfiel, kann ich mir nicht erklären.
Auffallend an G1 ist, dass diese Handschrift in v. 7 „Corvini“ hat. In Verbindung mit dem richtigen „umerosque“ (v. 4) kann man sich vorstellen, dass der Schreiber von G zwei Vorlagen (oder eine Vorlage, aus zwei Klassen kontaminiert) vor sich liegen hatte (Knoche 1940, 374): eine XSI-Fassung mit „Corvini“ (v. 5) und eine PI / GAMMA - Fassung mit „umerosque“ (v. 4): Die Kontamination daraus, verbunden mit einem Augensprung, ergab dann „umerosque minorem / Corvini post haec …“ Aufs ganze allerdings gesehen, scheint der Ausfall von v. 5 und 6 nur ein Sonderfehler zu sein, der keinen Aufschluss über die ursprüngliche Textgestalt gibt, sondern höchstens die Fehlerquellen und Unsicherheiten in der Tradition offenbart. (Knoche 1940, 154)
Wie aus Punkt 2 erkennbar wird, hat der Einschub von v. 6 bis 8 bereits vor Phi stattgefunden; die Varianten in der Vulgatrezension („nasumque“, „Corvini“, „Fabricium“, Ausfall von v. 7, „famosos“) scheinen nach Phi, also von der Vulgatrezension selber, vorgenommen worden zu sein; zwar lassen die Zeichen, die Knoche in G und U festgestellt hat, die nach seiner Meinung Ähnlichkeit mit Adnotationszeichen haben, darauf schliessen, dass vielleicht auch in … solche Zeichen neben einigen Versen standen, aber nicht unbedingt darauf, dass in Phi Varianten im Text oder neben dem Text zitiert waren: denn sonst wäre davon noch etwas in P1 festzustellen. P1 hat aber ausser dem kleinen Fehler „tabulas“ (v. 6) keine vom richtigen Text abweichenden Lesungen. Demnach geben auch diese Omega-Varianten nur einen Hinweis darauf, dass der Vulgatredaktor mit dem ihm vorliegenden Phi-Text nicht zu Rande kam: Den schwerverständlichen Wortlaut hat er zu vereinfachen versucht (Knoche 1940, 300).
Es ist also notwendig, bei der Erörterung von v. 6 bis 8 von der in Phi (= P1) vorliegenden Textgestalt auszugehen, d. h. zu beweisen, dass v. 1 bis 5, 9 - so wie sie z. B. in der Knocheschen Ausgabe gedruckt sind - die originale Fassung darstellen und dass v. 6 bis 8 - ebenso in dem Knocheschen Druckbild - interpoliert sind.
Die Konstruktion von v. 1 und 2 ist in v. 6 bis 8 wiederholt: Dem „quid prodest“ entspricht „quis fructus“, dem „ostendere“ das „iactare“, dem „contingere“ das „censeri“; inhaltlich sind die Namen zu Ämtern geändert worden („magistri equitum“, „dictator“) Was allerdings den Stammbaum und die Ahnengalerie angeht, ist der Verfasser von v. 6 bis 8 ungenau geworden (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 192 ff): Zum ersten spricht er von einer „generis tabula capax“, einer Ahnentafel, auf der wohl die Namen der Vorfahren verzeichnet gewesen sind und die nach unserer Stelle ziemlich umfangreich war; trotzdem kann der in diesen Versen gemeinte in der ganzen Menge nur einen Corvinus aufweisen.
Man sieht also, dass in v. 6 bis 8 manches unklar bleibt: Die Schilderung der Stammtafel und der Portraits geht durcheinander. Juvenal dagegen hatte klar geschieden:
zum anderen die plastischen Darstellungen der Ahnen („picti voltus“, „stantes in curris Aemiliani“, „Curii dimidii“, „umerosque minor Corvinus“, „Galba auriculis nasoque carens“) , die auch später in v. 9 („effigies bellatorum“) und v. 19 („veteres cerae exornant atria“) wieder angeführt werden.
Die Erörterung der athetierten Stellen (aus der ersten Hälfte des Satirenwerkes) hat gezeigt, wie schwierig die Beurteilung von echt oder unecht ist. Um die Argumentation voll auszuschöpfen, hatte ich zudem solche Stellen ausgewählt, die – mit Ausnahme von 6, 126 und des Anfangs der achten Satire - lückenlos überliefert sind. Denn wenn der Vers / die Verse in Handschriften fehlen, sind die Argumente für oder wider die Echtheit schon zur Hälfte gegeben: Das scheint mir ein wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste,, Fortschritt in der Bewertung des Juvenaltextes seit den früheren Editoren (z. B. Friedländer, Jahn), und zwar dank Knoches und Jachmanns Forschungen, zu sein.
Dass der Text ganz und gar nicht so „vortrefflich erhalten (ist)“, wie (Friedländer 1895) meinte, darf allerdings nicht dazu führen, sozusagen per analogiam alles irgendwie Verdächtige zu tilgen. Ich meine, Housman hat das Richtige getroffen:
„If we desire to have it believed that a line has been inserted by a scribe, we must explain what the scribe meant by inserting it. If we cannot, and if the line is nevertheless insufferable, then it is not interpolated but corrupt.“ (Housman 1931, XXXII)
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1 Referat im Oberseminar SS 1969 von Prof. Georg Luck, Bonn.
2 (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 72); (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 187 f).
3 In der "dell." - Zeile ist an erster Stelle jeweils der Editor genannt, der als erster die Stelle athetiert hat; es folgen die Editoren, die die Athetese übernommen haben.
4 (Leo 1909, ad loc.) unzutreffend wie auch zuu 6, 460 – siehe unten.
5 Zum Wortschatz wäre zu sagen, dass in v. 113 zwei Wörter vorkommen, die auch in anderen athetierten Versen erscheinen; "domus“ in 5, 66 und 11, 99 und "atque" in 11, 99 und 11, 161; ob dies ein Beweis für die Unechtheit sein kann, konnte im Rahmen dieses Referats nicht mehr untersucht werden. Knoches Bemerkung zu "atque" bei Juvenal (in: (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 124)) leuchtet nicht so ganz ein.
6 Martial III, 50,5: „sunt tibi boleti, fungos ego sumo suillos.”
7 vgl. Martial I,20, 3 bis 4: „Quid dignum tanto tibi ventre gulaque praecabor?/ boletum qualem Claudius edit, edas.“
8 der 126 für echt hält (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 200); ein weiteres Argument Jachmanns wird weiter unten behandelt.
9 „excepit turgentis verbera caudae" Hor., sat. II, 7, 49.
10 vgl. Mart., III, 93, 27: „intrare in istum sola fax potest cunnum.“
11 siehe etwa 6, 309-311; 317-319; 334 u.ö.
12 Was (Leo 1909) ad loc. sagt ("nil tam molestum est quam uxor ditior quam maritus"), geht am Sinn total vorbei.
13 Juv., 8,37; 10, 279; 13, 126; Mart., X, 32, 6; Prop., Il, 17, 9; Hor., ep. II, 2,157; Housman ad loc.
14 - was ja die Aufgabe bei einer Athetese ist; vgl. auch die Diskussion über 6, 126 (siehe oben).
15 Da in Q die Versanfänge in diesem Abschnitt fehlen, kann man dort nur "... perit“ bzw. "... petit", und "… modo“ lesen.
16 Att. II,17,1: „verum … haec … non deflebimus, ne et opera et oleum philelogiae nostrae perierit.“
17 zu IV,98; in: (Stocker/Travis 1965, 285).
18 Helm (Namatianus 1933) übersetzt „damnosus“ im Apparat mit: „Einbusse an ... verursachend“.
19 wie einige andere mehr; vgl. Helm zu 1, 201 (wo es wohl Juv. 11, 199 heissen muss) und zu 1,429.
20 vgl. (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 190) Wenn Housman, ad loc., in v. 7 „pontifices“ konjiziert und erklärt, „Corvinum“ hätten „P aliique ex u. 5“, so liegt er hiermit falsch: denn sollte P anstelle des - allerdings einleuchtenden – „pontifices“ das unerträgliche „Corvinum“ gesetzt haben?! Was soll der Grund dafür gewesen sein? Es ist ja wohl kaum anzunehmen, dass P den Stil verschlechtert hat, nur um „Corvinum“ von v. 5 noch einmal einsetzen zu können. Wenn korrigiert worden ist, wie z. B. in einem Teil der XSI-Redaktion, dann doch deshalb, um das „Corvinum“ loszuwerden, nicht um es zu erhalten!
21 (Jachmann, Eine Elegie des Properz. Ein Überlieferungsschicksal 1935, 207); Belege dazu S. 207 f und 228-240.
22 VII, 583-585.
23 Cicero, Pis., I,1: „Obrepsisti ad honores errore hominum, commendatione fumosarum imaginum, quarum simile habes nihil praeter colorem.“ – Boethius, Cons.1, pros. 1: „Quarum (sc. vestium) speciem, veluti fumosas imagines solet, caligo quaedam neglectae vetustatis obduxerat.“
24 a.a.O. Die Portraitbüsten waren „so geordnet und durch gemalte Linien verbunden, dass sie den Stammbaum der Familie darstellten.“ Die Seneca-Stelle, die er zitiert, lautet aber folgendermassen: „Qui inagines in atrio exponunt et nomina familiae suae longo ordine ac multis stemmatum inligata flexuris in parte prima aedium collocant, non noti magis quam nobiles sunt?“ Seneca unterscheidet die im Atrium befindlichen Büsten von den in der Vorhalle aufgestellten Stammbaum. - Es gibt eine Martial-Stelle, die Marquardt recht zu geben scheint: „argenti fumosa sui stemmata narrare“ (VIII,6,3), doch ist die Metapher zu surrealistisch als dass man sie in allem ernst nehmen müsste.
25 Entgegen der Meinung Marquardts kann Juvenal 8, v.1 bis 5, nicht als Beleg dafür bewertet werden, dass die Triumphatoren „zuweilen … auch in Atrium in ganzer Figur, stehend auf dem Wagen gemalt gewesen ... sein.“ (Marquardt 1964, 244).
26 vgl. Senecas Formulierung: „nomina ... longo ordine ac multis stemmatum inligata flexuris“.